Der offene Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat der westlichen Öffentlichkeit die Wichtigkeit der ukrainischen Kulturgeschichte bewusst gemacht. Es mangelt allerdings an grundlegenden Handbüchern. Auf Deutsch liegt keine ukrainische Literaturgeschichte vor, die einen Überblick über die wichtigsten Autorinnen und Autoren sowie die Entwicklung der literarischen Genres geben würde.
Es gibt eine Reihe von Fragen, der sich eine ukrainische Literaturgeschichte stellen muss. Wann und mit welchen Texten beginnt die Geschichte der ukrainischen Literatur? In welchen Sprachen und in welchem Raum vollzieht sie sich? Welche regionalen Besonderheiten sind zu beachten? Welche institutionellen Bedingungen ermöglichen und behindern den literarischen Prozess in der Ukraine? Schließlich ist noch auf ein wichtiges Spezifikum hinzuweisen. Eine ukrainische Literaturgeschichte kann keine Darstellung eines literarischen Prozesses sein, der unabhängig von seiner eigenen Reflexion, Historisierung und Institutionalisierung abläuft. Mit anderen Worten: Die ukrainische Literaturgeschichte "entstand" nicht einfach, sondern sie wurde über weite Strecken als gewollte kulturelle Ordnung konstruiert.
Die Literatur spielte in der ukrainischen Nationsbildung eine entscheidende Rolle. Wegen des langen Fehlens einer eigenen Staatlichkeit vollzog sich die ukrainische Literaturgeschichte in Räumen mit ganz unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen. Gleichzeitig trug gerade diese schwierige Situation dazu bei, dass die ukrainische Literatur sich innovativ von den jeweils vorherrschenden imperialen Kontexten absetzte. Diese erste deutschsprachige ukrainische Literaturgeschichte reicht von den Kodizes der Kyjiver Rus' bis zu sozrealistischer Prosa, von Barockpredigten bis zur Avantgardelyrik, von der "erschossenen Renaissance" bis zu aktuellen Kriegstexten.