In besonderer Deutlichkeit lassen sich an der Gründung der Gluck-Edition Spezifika von Musikforschung im 'Dritten Reich' und ihrer bruchlosen Fortführung in der Nachkriegszeit rekonstruieren: Noch in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs erhielt der etablierte Gluck-Experte Rudolf Gerber vom Staatlichen Institut für deutsche Musikforschung den Auftrag, in Karl Vötterles Bärenreiter-Verlag eine Gesamtausgabe der Werke Christoph Willibald Glucks herauszugeben. Trotz Gerbers Vereinnahmung des Komponisten für das nationalsozialistische Weltbild, seiner Quellensuche in Archiven in besetzten Kriegsgebieten für Herbert Gerigks Sonderstab Musik beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg sowie der von Vötterle vermittelten Gründung einer Gluck-Gesellschaft unter Schirmherrschaft des Hannoveraner Gauleiters galt die Gluck-Edition auch nach Kriegsende als unpolitische Angelegenheit.
Der Beitrag spannt einen Bogen von Gerbers ersten Plänen aus dem Jahr 1940 bis in die frühen 1950er Jahre, als unter Federführung Friedrich Blumes, der Leitfigur der damaligen deutschen Musikwissenschaft, mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesinnenministerium die Gluck-Gesamtausgabe als musikwissenschaftliches Langzeitprojekt institutionalisiert werden konnte.